- Auto und Autogesellschaft
- Auto und AutogesellschaftDas dominierende Verkehrssystem in den westlichen Industriestaaten ist heute der Straßenverkehr mit verbrennungsmotorgetriebenen Fahrzeugen. Dieses System ist nur mit Superlativen zu beschreiben: Ende 1995 wurde in Deutschland die 40-Millionen-Grenze der zugelassenen Personenkraftwagen (PKWs) überschritten, der PKW-Bestand Mitte 1998 betrug 41,7 Millionen. Jährlich werden rund 3,5 Millionen Fahrzeuge neu zugelassen. Bei einer Kraftfahrzeugdichte in Deutschland von 509 PKWs auf 1000 Einwohner — die höchste Europas — könnte die gesamte Bevölkerung auf den Vordersitzen ihrer Autos Platz nehmen. Das Auto ist für den Bürger nicht nur das mit Abstand komplexeste und teuerste Industrieprodukt, das er besitzt, für den Unterhalt des eigenen Wagens wird auch der größte Einzelposten des verfügbaren Einkommens ausgegeben. Die Lust am Besitz und die Freude am Fahren sind für viele Menschen ein Merkmal hoher Lebensqualität.Doch das Auto hat nicht nur den Wohlstand der westlichen Industriestaaten mitbewirkt und gemehrt, sondern auch erhebliche Probleme geschaffen, von der Zersiedelung der Landschaft über die Umweltverschmutzung durch Herstellung und Gebrauch der Autos bis zum massenhaften Tod durch Kraftfahrzeuge: Allein auf deutschen Straßen sterben jährlich rund 8000 Menschen, Hunderttausende werden durch Unfälle verletzt.Die alleinige Beschreibung der Technik des Personenautos würde seiner Bedeutung also keineswegs gerecht. In noch stärkerem Maß als bei anderen technischen Gegenständen ist hier auch der gesellschaftliche Kontext zu betrachten. Wie kein anderes Konsumgut steht das Kraftfahrzeug in einem komplexen und kontroversen Geflecht von Verkehrs- und Wirtschaftspolitik, gesellschaftlichen und individuellen Sehnsüchten, Bedürfnissen und Wünschen. Autogeschichte ist, wenn sie nicht banal sein will, die Geschichte eines komplexen gesellschaftsdominierenden Großsystems und seiner Nutzer.Ausstrahlung in alle LebensbereicheDer Begriff »Auto« umfasst mehr als nur das Kraftfahrzeug selbst. Zu seinem Umfeld gehören auch die Produktionsanlagen, die Straßen und der Straßenbau, ein bereits von Kindern zu beherrschendes System von Verkehrszeichen, flächendeckende Service-, Kraftstoffversorgungs- und Reparatureinrichtungen, Zubehör- und Stylingfirmen ebenso wie Institutionen der Verwaltung, Regulierung und Gesetzgebung sowie Hilfe im Straßenverkehr. Im weiteren Sinne sind auch die umfangreiche Organisation der Straßenverkehrspolizei und der Verkehrsunfalldienste, die mit Verkehrsdelikten befassten Kammern der Gerichte, Rettungs- und Notfalldienste, Stationen der Krankenhäuser und Ähnliches zu dem Großsystem »Autoverkehr« zu zählen.Die Dimensionen des Autoverkehrs haben nicht vorhergesehene Züge angenommen. Zwar ist der Planungsansatz einer auf das Autofahren ausgerichteten Infrastruktur, gipfelnd in Konzepten der »autogerechten Stadt«, wie in den 1950er-Jahren verfolgt, einer differenzierteren Beurteilung gewichen, dennoch wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Autos alle nicht ausdrücklich verbotenen Flächen exklusiv benutzen können; es ist normal, dass Autos auf den Straßen fahren, nicht dass Kinder darauf spielen. Das Denken, die Verkehrsplanungen und -organisationen einer ganzen Gesellschaft sind auf das Auto und seine Nutzung ausgerichtet. Das geht von ganzen Infrastrukturen (zum Beispiel das Einkaufszentrum auf der »grünen Wiese«, Schlafstädte und »Drive-in«-Imbisse) über die Raumordnung (Ausweisung von Neubauvierteln ohne ausreichenden Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr) bis hin zu neuen »Passageriten«: Der 18. Geburtstag ist für Jugendliche heute nicht mehr deswegen interessant, weil man mit ihm volljährig und somit geschäftsfähig und wahlmündig wird, sondern weil man endlich Auto fahren darf; der Führerschein wird so zum Ausweis des vollwertigen Erwachsenen. Es passt in diesen Kontext, dass ernsthaft diskutiert wird, den Entzug des Führerscheins zu einer Strafe auch bei Vergehen außerhalb des Verkehrsrechts zu machen.Die wirtschaftliche Bedeutung des AutomobilsDas Volumen der Autoproduktion ist überwältigend: Allein in der Bundesrepublik Deutschland wurden in den Boomjahren nach der Wiedervereinigung jährlich zwischen 4,6 und 4,9 Millionen PKWs und jeweils weit mehr als 300 000 Nutzfahrzeuge hergestellt. Damit repräsentiert allein die Autoproduktion einen enormen Teil der bundesdeutschen Wirtschaftskraft: Der Gesamtumsatz der Kraftfahrzeugindustrie (Kfz-Industrie) in Deutschland betrug 1997 rund 252 Milliarden DM (davon rund zwei Drittel für die Herstellung, der Rest für Teile, Zubehör, Anhänger, Aufbauten und Ähnliches). Die Exportquote beträgt fast 60 Prozent.Die Kfz-Industrie selbst beschäftigte 1997 über 700 000 Menschen. Doch auch andere Branchen haben mittelbar an der Wertschöpfung in der Automobilproduktion teil, etwa Zulieferbetriebe aus der chemischen, elektrotechnischen, der Textil- oder der Maschinenbauindustrie, weiterhin Dienstleistungsbranchen wie Ingenieurbüros, Speditionen und Verkehrsbetriebe. Nicht zuletzt sind auch die Betriebe zu nennen, die mit der Vermarktung der Automobile sowie die mit ihrer Nutzung und Wartung verbunden sind. Nach Abschätzungen des Verbandes der Automobilindustrie arbeiteten bei dieser umfassenden Betrachtung 1997 etwa fünf Millionen Menschen in Bereichen rund um den fahrbaren Untersatz; jeder siebte Arbeitsplatz hängt danach vom Auto ab. Rund 20 Prozent des Bruttosozialprodukts werden in der Kfz-Branche erwirtschaftet.Dr. Kurt MöserWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Kraftwagen: Hochtechnologie im VerborgenenKraftwagen: EntwicklungstendenzenAicher, Otl: Kritik am Auto. Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter. Eine Analyse. Berlin 21996.Alptraum Auto. Eine hundertjährige Erfindung und ihre Folgen. Begleitbuch zur gleichnamigen Photo-Ausstellung. .., Beiträge von Peter M. Bode u. a. München 51991.Barske, Heiko: Auto und Verkehr. Wege aus der Sackgasse in eine Zukunft mit Perspektive. Gießen 1994.Berger, Roland und Servatius, Hans-Gerd: Die Zukunft des Autos hat erst begonnen. Ökologisches Umsteuern als Chance. München u. a. 1994.Canzler, Weert: Das Zauberlehrlings-Syndrom. Entstehung und Stabilität des Automobil-Leitbildes. Berlin 1996.Geschichte des Automobils, Beiträge von Marco Matteucci u. a. Künzelsau 1995.Holzapfel, Helmut: Autonomie statt Auto. Zum Verhältnis von Lebensstil, Umwelt und Ökonomie am Beispiel des Verkehrs. Bonn 1997.
Universal-Lexikon. 2012.